Eintrag: #076
Warum will man Türen zumachen?
Ja, weil es kalt ist draußen und bei offener Tür der Ofen
das Haus nicht erwärmen kann.
Ja, weil der Wind sonst zu viel Staub in die gute Stube
bläst.
Ja, weil sonst ein Dieb hereinkommen und mir mein letztes
Schuhzeug stehlen könnte.
Ja, weil ich allein sein und ungestört bleiben will. Das alles sind Gründe, eine Tür zu schließen.
Aber was können verschlossene Türen noch bedeuten?
Vielleicht ist das Haus nicht bewohnt, oder der Besitzer ist
nur kurz weggegangen – oder in unserer Zeit weggefahren.
Es kann aber auch sein, dass jemand im Haus ist – und Angst
hat. Darum hat er sich eingeschlossen.
Ich glaube, die Angst ist der eigentliche Schlüssel zu den
verschlossenen Türen.
Wovor haben Menschen Angst – und vor wem?
Menschen haben vor anderen Menschen Angst. Dass man mich so sieht, wie ich wirklich bin:
unrasiert, im schmutzigen Gewand, das Geschirr vom Mittag noch nicht
abgewaschen. Dass ich so wenig zum Kochen habe, weil ich mir nichts leisten
konnte. Dass man mich sieht, wenn ich einen Schluck zu viel trinke.
Die größte Angst, glaube ich, ist die, sich zu offenbaren,
wie man wirklich ist. Krank zu sein und sich beim Gehen stützen zu müssen, eine
Brille zum Lesen zu brauchen – all das will man nicht zeigen.
Man versteckt sich lieber hinter verschlossenen Türen, als
sich mitzuteilen. Als zu sagen: Ja, ich bin älter geworden. Ja, obwohl ich
fleißig bin, reicht es nicht für Luxus. Ja, ich trinke manchmal, weil ich den
Problemen nicht mehr gewachsen bin oder die Einsamkeit nicht mehr
aushalte. Siehst du Türen, die zu lange
oder immer verschlossen sind, kannst du fast sicher sein: Dort wohnt jemand,
der einsam ist. Nicht einsam, weil die Tür zu ist – sondern umgekehrt. Diese
Person ist einsam im Herzen und verschließt sich deshalb noch mehr nach
außen. Kennst du solche Menschen – bitte
sie um Einlass und schenke ihnen eine Stunde deiner Zeit. Aber hör ihnen
wirklich zu. Einsame Menschen haben viel zu erzählen. Von ihrer Welt. Erzähle
ihnen nichts vom letzten Zugunglück oder von deinem Urlaub am Meer.
So erlaubst du ihnen, sich zu öffnen. Und vielleicht ist
beim nächsten Mal, wenn du im Stiegenhaus an ihrer Tür vorbeigehst, genau diese
Tür einen kleinen Spalt offen – das wäre dann schon fast eine Einladung. Nimm
sie an und hör dir dasselbe noch einmal an. Einsame Menschen erzählen selten
etwas Neues. Wenn dich jemand bittet,
die Tür zu schließen, dann bitte ihn, dass das nicht für dich gelten soll.
Du möchtest die Tür gern wieder offen sehen, wenn du das
nächste Mal vorbeikommst. Als mich meine
Mutter das letzte Mal bat, die Tür zu schließen, war es das letzte Mal, dass
ich sie lebend sah.
Darum macht mich dieses Bild, das sie selbst als Kind
gezeichnet hat, jedes Mal traurig – und jedes Schild „Türe zumachen“, das ich
irgendwo sehe. Hinter verschlossenen
Türen sind einsame Menschen.
Klopfe an diesen Türen – vielleicht kannst du manche
verschlossene Seele oder manches verschlossene Herz wieder öffnen. Dieses Bild ist das letzte der Serie „Kinder
Aquarelle / damals 04“ – das letzte und auch das traurigste.
Ich habe euch die Türen aufgemacht, damit ihr diesen kleinen
Schatz – hoffentlich staunend oder ein wenig erfreut – bewundern konntet. Er
ist nicht verloren, weder in der Zeit noch im Raum. Meine Arbeit als Schatzhüter ist damit
beendet, und ich selbst werde euch bitten, wenn ihr alles gesehen habt:
„Bitte Türe zumachen!“
Don José
| Titel | Türe zumachen |
| Autor | Theresia Bauer |
| Gezeichnet im Alter von | 12 Jahren |
| Jahr | 1933 |
| Land | Österreich |



























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