Eintrag: #072
Jetzt
erzähle ich dir, wie angeblich diese wunderschöne Stickkunst in Paraguay
entstanden ist.
Zuerst
übersetze ich dir noch das Wort „Ñanduti“: Es bedeutet auf Guaraní so viel wie
„Spinnennetz“.
Und
wenn du genau hinschaust – jedes Muster hat tatsächlich kreisförmige Formen,
genau wie ein Spinnennetz. Wie immer
gibt es Entstehungsgeschichten, Märchen oder Sagen. Genauso ist es mit dem
Ñanduti. Vor vielen Jahrhunderten lebte
in Paraguay ein junger Cacique, ein Indianerführer. Er war jung, der Stärkste
und Geschickteste – deshalb hatten ihn die Älteren zu ihrem Anführer gewählt.
Dieser
Jüngling im Herzen des südamerikanischen Urwalds besaß viele Tugenden, aber
auch einen Fehler: Er wollte alles haben, was ihm gefiel – und das geht, wie du
weißt, nicht. In seinem Dorf lebte eine
Muchacha, ein Mädchen, das ihm so sehr gefiel, dass er Tag und Nacht an sie
dachte. Er hatte sich richtig verliebt und wollte sie zur Frau nehmen.
Als
er sie bat, mit ihm zu gehen und sein Leben zu teilen, dachte sie eine Weile
nach und stellte ihm eine Bedingung:
Wenn
er ihr etwas schenkte, was noch nie ein anderes Mädchen bekommen hatte – etwas
ganz Besonderes –, dann würde sie Ja sagen.
Zum ersten Mal musste er etwas geben, um das zu bekommen, was er am
meisten liebte.
Traurig
und voller Angst, nichts Schönes finden oder machen zu können, ging er allein
tief in den Urwald. Nach einigen Tagen
sah er auf einer Lichtung einen kleinen Kobold. Der Zwerg nahm die
Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach fielen, und webte daraus mit
unglaublicher Geschwindigkeit ein wunderbares, kreisförmiges Netz aus purem
Licht.
Erschöpft
legte sich der Kobold danach unter einen Farn in den Schatten und schlief
ein. Leise schlich sich der Cacique
heran, nahm das leuchtende Netz und lief davon. Zuerst lachte er vor Freude –
doch als er sich umdrehte, löste sich das Netz in einen langen Faden auf und
entschwand ihm schließlich ganz. Da
kniete er nieder, weinte und flehte die Götter an – besonders den Gott des
Donners und des Blitzes, den er verehrte und fürchtete:
Er
wolle nie wieder etwas nehmen, was ihm nicht gehöre, wenn sie ihm nur etwas
finden ließen, das er seiner Muchacha schenken dürfe. In diesem Augenblick kam seine alte Mutter,
die ihn schon gesucht hatte. Sie war weise, noch weiser als ihr Sohn. Er
erzählte ihr alles: von der Muchacha, ihrem Wunsch und wie sich sein
wunderbares Geschenk in nichts aufgelöst hatte.
Da begann die alte Indianerin, sich einige ihrer silbernen Haare
auszurupfen. Mit diesen silbernen Fäden knüpfte sie – genauso schnell wie der Kobold
– immer größere Kreise um kleinere Kreise, bis ein zauberhaftes Geflecht
entstanden war.
Als
die letzten Sonnenstrahlen des Tages darauf fielen, leuchtete es in allen
Farben des Regenbogens. Mit diesem
Geschenk und seiner still lächelnden Mutter an der Seite kehrte der Cacique ins
Dorf zurück. Er ließ das Mädchen rufen, überreichte ihr das leuchtende Netz –
und vor Freude weinend nahm sie es an und gab ihm ihr Ja-Wort. Später lehrte die Mutter ihre
Schwiegertochter das Geheimnis des Stickens – diesmal mit weniger Eile und mit
Fäden aus Baumwolle. So entstand die
Kunst des Ñanduti – das Spinnennetz aus Licht und Liebe.
Don José
Wallpaper Sol de Ñanduti 1024x768






























Vienna Time
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